303 Tage – 10 Monate Großfamilie

15Juni2018

Fast ein ganzes Jahr lang 20 Geschwister haben – so genau in dem Sinne habe ich mir das zwar anfangs nicht ausgesucht, aber willkommen in meinem Freiwilligendienst in einem Centre für sozial vernachlässigte und / oder behinderte Kinder und Jugendliche.

Und jetzt sind die Kinder alle weg. Am 18. Juni war der Abholtag und tatsächlich kam auch der Großteil der Mütter (und einige Väter, aber stark in der Unterzahl) pünktlich an diesem Tag. Und nahmen mir meine Kinder weg. Also, es sind ja deren Kinder, aber sie sind mir so stark ans Herz gewachsen, nannten mich zum Teil sogar wirklich Maman (natürlich die Kleinen) und ich wurde auch vom Personal scherzhaft „La mère des enfants“ genannt, da ich mich halt um sie kümmerte.

303 Tage morgens Kinder waschen – 303 Tage deren Frühstück machen – 303 Tage Wassereimer für sie tragen und Rollstühle schieben – 303 Tage kleine Wunden verarzten und Grippe etc. auskurieren – 303 Tage die Wäsche der Kleinen waschen – 303 Tage Umarmungen, Spiele und Freundschaften ausmachen – 303 Tage Lachen, Labern und Lieben – 303 Tage Familie

Wer bin ich, der einfach so in den Alltag der Kinder treten konnte und plötzlich eine so wichtige Bezugsperson geworden ist. Wer bin ich, der meint, den Kindern ohne Ausbildung schulisch lesen und schreiben beibringen zu können. Wer bin ich, der so einige Male Streitereien schlichten sollte und sich und seine Meinung und allgemeine Prinzipien durchsetzt. Wer bin ich, um all das von den Kindern zu verlangen und warum habe ich es verdient, dass sie mich akzeptieren, mir Wärme und Freundlichkeit entgegenbringen. Wie bin ich einfach so Teil der Familie geworden, ohne das wirklich zu verstehen und zu merken.

Jedes Jahr kommen hier neue Freiwillige und doch werden sie jedes Jahr aufs Neue herzlichst aufgenommen und eingegliedert, ohne Vorurteile, ohne große Probleme und ohne Angst, sich emotional zu sehr an die Person zu hängen. So schön es ist, den Kindern und Bewohner*innen so nah gewesen zu sein, so leerer ist jetzt irgendwie das Centre und auch mein Herz (klingt übertrieben, aber so fühlt es sich an). Nicht nur die Kinder und Bewohner*innen sind auf mich zugekommen, auch ich habe mich sehr fest in diese Familie eingefügt und mein gerade noch so stabiler Platz im Mutter-, Schwester- oder Freundedasein scheint sich irgendwie in Luft aufgelöst zu haben. Sie sind alle weg. Und mein Herz und meine Gefühle, die daran hängen, wurden mit fortgezogen, in jede Ecke Kameruns, wo die Kinder jetzt zwei Monate bei ihren Familien verbringen.

Wem das jetzt zu sentimental wird, der kann gerne aufhören zu lesen und ich verlange von niemandem, das nachempfinden oder nachvollziehen zu können. Ich denke nur an den kleinen siebenjährigen Ulrich, der sich schon eine Woche vorher Gedanken gemacht hat, wofür er mir danke sagen will und an den Vater von Junior, der einige Tage früher gekommen ist und diese mit uns verbracht hat und so stolz war, als er mich zu ihnen nach Hause eingeladen hat und ich denke an die Spiele wie Eierlauf, Stopptanz und Sackhüpfen, die wir am Tag des Abschlussfestes gemacht haben und den Spaß, den wir dabei alle hatten.

Und es ist an diesem Punkt, dass ich mir darüber bewusst werde, dass dieser Freiwilligendienst schon lange nicht mehr nur Aufregung und ein Abenteuer ist, sondern mein Leben. Mein ganz normales Leben, nur an einem anderen Ort, in einem anderen Land. Dass ich schon lange über kulturelle Unterschiede und Sprachbarriere hinweg bin und einfach hier dazu gehöre, fest eingebunden bin und meine Rolle in der Gesellschaft gefunden habe. Ich lebe hier.

Jetzt, wo die Kinder und Bewohner*innen fast alle weg sind, muss ich mir noch einmal über meine Rolle klar werden. Es organisiert sich alles noch einmal anders, ich wohne im Centre jetzt nur noch mit zwei Bewohnern, die nicht in ihre Familien gehen können und habe auch sonst kaum noch eine große Aufgabe, wie die, sich um meine ganzen kleinen Rabauken zu kümmern und mit den Größeren gemeinsam Hausaufgaben erledigen, zu reden, zu spielen und Zeit zu verbringen.

Hier noch ein paar Fotos zum Abschlussfest: